Das Projekt mein Heim
Was ist ein Zuhause? Wie ist es, auf der Straße zu leben, ohne seine eigenen vier Wände zu haben, ohne Schutz, ohne finanzielle Mittel, unter schlechten hygienischen Bedingungen und zudem inmitten einer Pandemie? Wer sind diese Obdachlosen Menschen, die das ganze Jahr über auf der Strasse leben, in Parks und auf Bänken schlafen? Dies waren die Fragen, die ich mir stellte, als ich anfing, über das Thema und den Inhalt des Projektes nachzudenken, welches ich Mein Heim nannte.
Man kann sehr lange über die Frage nachdenken, was ein Zuhause ist und was es als psychologisches Phänomen darstellt. Seit einer geraumen Zeit beschäftige ich mich mit dem Thema das Haus bzw. das Heim und entschloss mich, ein Video- und Interviewprojekt zu diesem Thema herzustellen. In seinem Essay von 1948 widmete der französische Philosoph Gaston Bachelard dem Thema Haus ein ganzes Kapitel (1). Er schreibt, dass man die Erinnerungen an das Haus, das Elternhaus, sein Leben lang mit sich trägt. Es hätte sich so sehr in unser Gedächtnis eingeprägt, dass wir uns an Einzelheiten der Inneneinrichtung, des Tapetenmusters, der Raumaufteilung, der Gerüche uvm. erinnern könnten. Wir alle sind einmal in einem Elternhaus aufgewachsen, einem Haus oder einer Wohnung. Es mag eine gute und positive Kindheit gewesen sein, oder aber auch traumatisch und schwierig gewesen sein. Zu diesen Orten kehren wir mental in unseren Träumen und Tagträumen zurück. Es sind Orte, die Gefühle der Geborgenheit, Wärme und Fürsorge erwecken, oder bei einigen Alpträume und schlechte Erinnerungen hervorrufen.
Angesichts der Covid-19-Pandemie wurde das Zuhause als Zufluchtsort in den Vordergrund gerückt. Deshalb war es mir wichtig, dieses Thema zu einem zentralen Element meines Projektes zu machen. Welche Erinnerungen haben Obdachlose an die Orte, die Wohnungen, die Häuser, in denen sie aufgewachsen sind? Wünschen sie sich wieder ein eigenes Zuhause? Zugleich wollte ich Fragen stellen, welche sich auf die Pandemie selber beziehen und wollte erfahren, wie die obdachlosen Menschen in ihrem täglichen Leben davon betroffen sind.
Meinen Interviews in Berlin zufolge werden Menschen aus einer Vielzahl von komplexen Gründen obdachlos. Häufig sind Drogen- oder Alkoholabhängigkeit im Spiel oder Arbeitslosigkeit oder eine Scheidung. Zum Teil fehlen schlichtweg Ausweispapiere und damit verfällt ein Anspruch auf Leistungen. In Berlin gibt es auch eine große Gruppe obdachloser älterer Menschen, die aufgrund schierer Altersarmut auf der Straße landen. Viele andere leben mit psychischen Erkrankungen und wenn ihnen die finanziellen Mittel fehlen, können sie ihre Krankenversicherung nicht bezahlen, welche wiederum für den Zugang zur notwendigen Behandlung erforderlich ist. Schließlich gibt es auch Menschen, die aus freien Stücken auf der Straße leben.
Obdachlose Menschen berichten, dass sie sich oft innerhalb der Gesellschaft stigmatisiert fühlen. Neben der täglichen Herausforderung, in langen Schlangen stundenlang für eine einfache Dusche oder etwas zu Essen anzustehen, werden sie von Amtsträgern, der Polizei und verschiedenen öffentlichen Einrichtungen herablassend behandelt. Einer der Befragten drückte es sehr kurz und treffend aus: "In Deutschland ist man niemand, wenn man kein Geld hat, so ist es in diesem Land nun leider.”
Laut einer offiziellen Zählung im Januar 2020 gibt es in Berlin 1976 Obdachlose Menschen. Unter Politikern und Wohlfahrtsverbänden ist jedoch allgemein bekannt, dass diese Zahl in Wirklichkeit viel höher liegt, nämlich realistisch geschätzt bei 10 bis 15.000 Obdachlosen. Im Frühjahr/Sommer 2021 ist eine weitere Zählung geplant, um realistischere Zahlen zu erhalten und saisonale Schwankungen mit einzubeziehen.
Die Interviews wurden zwischen dem 26.05. und 22.06.2020 durchgeführt, hauptsächlich im Tiergarten am Bahnhof Zoo. Der Tiergarten beheimatet eine große Zahl von Obdachlosen und dient als Basis für mehrere Wohltätigkeitsorganisationen. Auch ist der Tiergarten sehr geschichtsträchtig. Seit 1520 war der Tiergarten zunächst das private Jagdrevier des Kurfürsten von Brandenburg und im 17. und 18. Jahrhundert wurde er in einen Park umgewandelt und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Heute ist der Tierpark Schlafzimmer, Wohnzimmer und Treffpunkt zugleich für eine große Anzahl von Obdachlosen in Berlin. Die meisten von ihnen haben irgendwann schon einmal dort geschlafen, auf Bänken oder in Schlafsäcken, versteckt zwischen Bäumen und Sträuchern. Es ist eine idyllische, grüne Fläche mitten in Berlin, welche von Obdachlosen, Prostituierten und Schwulen zugleich frequentiert wird. Der Tiergarten ist zudem auch für alle Berlinerinnen und Berliner traditionell ein sehr populärer Erholungs- und Freizeitort.
Es lag mir sehr am Herzen, mit mein Heim nüchterne, aber zugleich intime Interviews mit den Obdachlosen zu führen. Die Antworten der obdachlosen Menschen offenbaren eine grosse Vielfalt von Personen und Schicksalen. Mir war es auch ein wichtiges Anliegen, die unterschiedlichen Gruppen von Obdachlosen in den Interviews widerzuspiegeln, indem ich z.B. Männer, Frauen und unterschiedliche Altersgruppen mit einbezogen habe. Ich sehe mein Heim als ein Zeitdokument einer besonders gefährdeten Gruppe während des Ausbruchs und des Verlaufes der Coronapandemie im Jahre 2020 in Berlin. Mein Wunsch ist es zudem, einen intimen Einblick in die Gruppe von obdachlosen Menschen zu gewähren; eine Gruppe, die genauso vielfältig ist wie wir alle auch und trotz ihrer schwierigen Lage sind viele von ihnen dazu fähig, nach vorne zu blicken, positiv zu denken und ihr Leben wieder aufzubauen. Als Außenstehender und Betrachter hinterlassen die Stärke, der Mut und die Beherztheit dieser Menschen ein Gefühl von tiefem Respekt und grosser Demut.
Zitat:
(1) “La terre et les rêveries du repos” aus 1948 von Gaston Bachelard (1883–1962)